Nordwasser by Ian McGuire

Nordwasser by Ian McGuire

Autor:Ian McGuire
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: mareverlag
veröffentlicht: 2018-05-15T00:00:00+00:00


15

Vier Tage und Nächte liegt Brownlee mit offenen Augen besinnungslos in seiner Koje und atmet kaum. Die linke Seite seines Gesichts ist schwarz angelaufen und entstellt. Das Auge komplett zugeschwollen. Unbekannte Flüssigkeiten quellen aus seinem Ohr; oben an der Stirn, wo die Haut aufgeplatzt ist, kann man den weißen Schädelknochen sehen. Sumner hält es für unwahrscheinlich, dass er überlebt, und wenn doch, für ausgeschlossen, dass sich sein Verstand je wieder ganz erholt. Er weiß aus Erfahrung, dass das menschliche Gehirn solche Erschütterungen nicht verkraften kann. Ist der Schädelknochen gebrochen, wird die Situation nahezu hoffnungslos, sind die Schäden zu immens. Er hat solche Verletzungen auf dem Schlachtfeld gesehen, von Säbeln und Schrapnells, Gewehrkolben und Pferdehufen – auf Bewusstlosigkeit folgt Katatonie, hin und wieder brüllen sie wie Verrückte oder weinen wie Kinder, da etwas in ihrem Inneren (ihre Seele?, ihr Charakter?) zertrümmert, durcheinandergebracht wurde. Sie haben die Orientierung verloren. Meist ist es besser, findet er, wenn sie sterben, anstatt weiterhin die halbdunkle Zwielichtwelt der Wahnsinnigen zu bevölkern.

Cavendish hat eine schlimm gebrochene Nase und mehrere Schneidezähne verloren, wirkt in jeder anderen Hinsicht jedoch unverändert. Nach einer kurzen Zeitspanne der Ruhe, in der er Fleischbrühe gelöffelt und Opium gegen die Schmerzen genommen hat, steht er wieder auf und geht seinen Pflichten nach. An einem düsteren Morgen, als sich Wolken am Horizont zusammenbrauen und Regen in der Luft liegt, lässt er die Männer auf dem Vorderdeck antreten und erklärt ihnen, dass er das Kommando über die Volunteer übernimmt, bis Brownlee sich erholt hat. Henry Drax, versichert er ihnen, wird in England ganz bestimmt als Mörder und Meuterer für seine Schandtaten gehängt, bis dahin bleibt er fest im Frachtraum angekettet, wo er kein Unheil mehr anrichten kann, und hat keinen Anteil mehr am weiteren Verlauf der Fahrt.

»Ihr fragt euch vielleicht, wie sich ein derartiges Scheusal unter uns bewegen konnte, doch darauf weiß ich keine gute Antwort«, sagt er. »Er hat mich so sehr hinters Licht geführt wie jeden von uns. Ich habe zu meiner Zeit einige tückische und bösartige Wichser kennengelernt, aber keinen, wie ich gestehen muss, der Henry Drax gleichkäme. Hätte der gute Mr. Black beschlossen, ihm die andere Schrotpatrone im Lauf in die Brust zu schießen, als er die Möglichkeit dazu hatte, würde mich persönlich das nicht sehr bekümmern, doch jetzt ist er unten im Frachtraum angekettet wie das wilde Tier, das er ist, und wird erst wieder Tageslicht sehen, wenn wir in Hull anlegen.«

Unter der Besatzung weicht die Fassungslosigkeit darüber, was sich in Brownlees Kabine abgespielt hat, nicht lange danach einer allgemeinen Gewissheit, dass die Reise selbst verflucht ist. Sie erinnern sich an die Schauergeschichten über die Perceval, über Männer, die sterben oder den Verstand verlieren, ihr eigenes Blut trinken, um zu überleben, und fragen sich, warum sie so töricht oder uneinsichtig waren, auf einem Schiff anzuheuern, dessen Kapitän berüchtigt ist für sein beängstigendes Pech. Obwohl das Schiff noch nicht einmal zu einem Viertel mit Tran gefüllt ist, wünschen sie sich nichts sehnlicher, als umzukehren und direkt nach Hause zu segeln. Sie befürchten,



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